Sonntag, 6. März 2011

Die Fabel vom Säbelzahntiger

Liebe Kinder! Vor Tausenden von Jahren lebten auf der Erde die stolzen Säbelzahntiger. Das waren herrliche große Katzen; wahre Könige der
Erde. Die Säbelzahntiger ernährten sich hauptsächlich von wilden Schafen,
die meistens im Überfluss vorhanden waren. In Perioden der Dürre, wenn
der Regen ausblieb, das Gras nicht so üppig wuchs und die Schafe fad und
mager waren, schlossen sich die Säbelzahntiger zu kleinen Gruppen zusammen,
um größere Huftiere zu jagen. Dann war es nur natürlich, dass die tapfersten Jäger,
die am meisten riskierten, die besten Stücke vom Fleisch bekamen. Menschen
standen selten auf der Speisekarte der prächtigen Katzen, denn obwohl diese
Kreaturen mit ihren primitiven Keulen nicht gegen Säbelzähne anstinken konnten,
gab es von ihnen einfach zu wenige. Und Mammuts ging man besser aus dem Weg, es sei denn, man stieß auf ein verletztes Exemplar. Das gab ein Festmahl, Kinder!
      Eines Tages begab es sich, dass ein paar Säbelzahntiger meinten, ein Säbelzahntiger, der kein Fleisch mehr fresse, sei ein viel edleres Wesen, als ein erfolgreicher Jäger. Von diesem Tage an spielten alle verrückt. Plötzlich galt es als eine bedeutendere Leistung, etwas der Natur entsprechendes nicht zu tun, als etwas der Natur entsprechendes besonders gut zu tun.
      Man erfand den allmächtigen Großen Tiger, von dem alle Säbelzahntiger abstammten und bestand darauf, dass die jungen Katzen diesem, statt den Jägern, für ihre Mahlzeiten danken sollten. Brach aber eine Seuche aus, welche die  gesamte Population der Säbelzahnbewehrten in einem Landstrich dahinraffte, machte man nicht etwa den Großen Tiger dafür verantwortlich, der ja immerhin allmächtig war, sondern jene, die an der Großer-Tiger-Geschichte zweifelten. Das war gar nicht mal so dumm, denn so konnte man solche Jäger, die nicht ohne Ruhm leben konnten, mit der Jagd auf die Zweifler beschäftigen.
      Nun begann man, den besten Jägern nur noch so viel von ihrer Beute zu lassen, dass sie die Kraft hatten, weiter zu jagen. Alles andere nahm man ihnen weg, um die zu füttern, die zum Jagen zu dumm oder zu faul waren. Das hatte zur Folge, dass sich einige Säbelzahntiger absichtlich dumm stellten, um sich nicht mehr für die Dummen anstrengen zu müssen. Andere Säbelzahntiger fraßen sogar gewisse Pflanzen, obwohl sie wussten, dass davon ihre Zähne ausfielen und ihre Augen trübe wurden. Aber sie wussten ja außerdem, dass man sie nicht verhungern ließe und diese Pflanzen machten sie noch gleichgültiger, als sie es ohnehin schon waren.
      Während früher ein Säbelzahntiger, der einem anderen geschadet hatte, in die Wüste gejagt wurde, wo er hungern musste, verbot man ihm nun das Jagen und fütterte ihn. Besonders faule Tiere fanden diesen Zustand bald erstrebenswert und schadeten den anderen, wo sie nur konnten.
      Einem Säbelzahntiger, der vorgab zu lernen, wie man ein Mammut erlegte, schenkte man bald mehr Beachtung, als einem, der tatsächlich ein großes Huftier erlegt hatte. Oft erklärte
man sogar besonders mutige Jäger zu einer Gefahr für die Gesellschaft und nahm
ihnen gleich alles weg. Derjenige hingegen, der vorgab ein Mammut erlegen zu wollen,
lebte bis an sein Ende von der Beute der Tapferen, ohne auch nur ein einziges Schaf erlegt zu haben.
      Es kam, wie es kommen musste: Die Säbelzahntiger starben aus.
      Nun, liebe Kinder, das ist natürlich eine Fabel. Kein Mensch kann sich vorstellen, dass ein schönes Tier wie der Säbelzahntiger wirklich so dämlich sein konnte. Eigentlich kann man sich überhaupt kein so dämliches Lebewesen vorstellen, oder? Warum erzähle ich euch das dann?



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