Sonntag, 6. März 2011

Die Macht zum Wille

„Hier macht jeder, was er will," donnerte mein Freund, der alte Meister, und ließ beide Fäuste auf den Schreibtisch krachen. Während Bleistifte, Messinstrumente, Unterlagen und der kristallene Aschenbecher ihren beeindruckenden Tanz beendeten, raufte er sich auch schon die Haare und seufzte:
      „Ich halte das nicht mehr aus."
      „Wenn wirklich jeder macht, was er will, dann muss es doch ganz ordentlich laufen," grinste ich ihn an und kippte meinen Stuhl lässig nach hinten.
      „Pinter," brummte er in gespielter Verzweiflung, „ich habe schon genug Ärger an der Backe. Verarsch du mich nicht auch noch!"
      „Tu ich nicht, Wilhelm," sagte ich, „das Problem ist ja nicht, dass die Menschen machen, was sie wollen. Das Problem ist, dass sie nicht wissen, was sie wollen und dass es Disziplin voraussetzt, zu machen was man will."
      Ich deutete mit dem Daumen auf die aktuelle Ausgabe einer beliebten Tageszeitung, die es eben an den Rand seines Schreibtisches geschafft hatte. Dort prangte in großen Buchstaben die Überschrift:
Ich wollte niemandem weh tun
(Die ganze Aussage des Massenmörders von Efflingen lesen Sie auf Seite 4)

      „Mann, du weißt doch hoffentlich, dass ich dieses Käseblatt nur wegen des Sportteils und der nackten Weiber lese. Sag mal, was ist, wenn ich einen neuen Rolls Royce mit Chauffeur haben will?"
      „Dann musst du dir entweder etwas Gewinnbringendes einfallen lassen, oder du musst mit dem Vorwurf leben, den Realitätssinn verloren zu haben."
      „Schon kapiert. Aber ich mache lieber meinen eigenen Test."
      Aus den Augenwinkeln sah ich einen Burschen im Blaumann an der offenen Bürotür vorbeigehen. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Kerl einen Bogen um die Tür machte.
      „Kalle," brüllte mein Freund und der Angesprochene zuckte sichtlich zusammen, kam aber sogleich schlurfenden Schrittes ins Büro.
      „Was willst du hier eigentlich?"
      „Ich, äh, ich... wie meinen Sie das?" stotterte Kalle.
      „Spreche ich Spanisch? Warum bewegst du deinen Hintern an fünf von sieben Tagen in diesen Betrieb?"
      „Ach so. Natürlich will ich hier möglichst gute Arbeit machen."
      „UND WARUM LÄUFST DU DANN HIER HERUM, ALS HÄTTEN WIR NICHTS ZU TUN?" brüllte Wilhelm, der nun ganz in seinem Element war. Ich weiß nicht, ob ich in diesem Augenblick das Opfer einer optischen Täuschung wurde, denn mir schien es, dass Kalle plötzlich 20 cm kleiner war. Ich drehte mich zum Fenster, um mein Lachen zu verbergen.
      Einen Moment später war Kalle verschwunden und in der Tür stand ein junger Mann, der dem Gespräch offenbar interessiert zugehört hatte. Ein Hobby-Revolutionär mit strähnigem Haar, einem Duzend Ohrringen und einem Gewerkschafts-Anstecker am Revers seines Kittels.
      „Und was willst du in dieser Bude?" fragte Wilhelm.
      Unser Revolutionär hatte mehr Schneid als Kalle. Er wagte sich sofort vor den Schreibtisch und sah dem Meister tief in die Augen, als er sagte:
      „Ich will mit möglichst wenig Arbeit möglichst viel Geld verdienen."
      Mein alter Freund grinste ihn an, was bei ihm allerdings nach gefletschten Zähnen aussah, während er entgegnete:
      „Und ich will, dass du für möglichst wenig Geld möglichst viel arbeitest. Solange wir uns in der Mitte treffen, passen wir zusammen. Aber werde nicht frech!"
      Wonach sich der kleine Revolutionär mit einem fröhlichen Winken verabschiedet hatte, erläuterte mir der Meister:
      „Der Junge darf sich das nur erlauben, weil er wirklich etwas auf dem Kasten hat. Aus dem könnte noch etwas werden." Nach kurzem Zögern fügte er lachend hinzu:
      „Wenn er weiß, was er will."
      Dann verfinsterte sich sein Blick. Er griff nach einem Brief, der auf seinen Unterlagen lag, stemmte sein beachtliches Gewicht mir erstaunlicher Schnelligkeit vom Stuhl und bedeutete mir, ihm zu folgen. Zielstrebig wie ein Schlachtschiff marschierte er an Maschinen und Werkbänken vorbei durch die Fertigungshalle und mir blieb nichts anderes übrig, als in seinem Kielwasser zu folgen. Diesem Mann hatte gewiss noch niemand unterstellt, er wisse nicht, was er wolle.
      Der Marsch meines Freundes endete in der Lehrlingswerkstatt, wo bei seinem Eintreten fünf Köpfe ängstlich eingezogen wurden. Wenn Papier unheilvoll rascheln kann, dann tat es der Brief in seiner Hand.
      Wilhelm stampfte auf einen sommersprossigen Halbstarken zu und drehte gleich richtig auf:
      „Was immer du hier willst, Lernen gehört wohl nicht dazu, schreibt die Berufsschule."
      Der Knabe öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, hatte der Meister ihm den Brief von Links und Rechts um die Ohren geschlagen und auf dem Absatz kehrt gemacht. Vor der Tür klagte er:
      „Manchmal denke ich, dass ich nur von willenlosen Schwachköpfen umgeben bin."
      „Oscar Wilde sagt: Willenskraft ist die Grundlage des Charakters," zitierte ich und sofort blieb er wie angewurzelt stehen und runzelte die Stirn. Seine gewaltige Pranke klatschte auf meine Schulter und er sagte:
      „Sag deinem Kumpel Oscar, er soll zusehen, dass er bei uns als Personalchef anfängt! Der könnte mir diese charakterlosen Schwachköpfe vom Hals halten."
      Manchmal überraschte mich Wilhelm wirklich.



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